Hans-Oiseau Kalkmann
„Zelte, Tiere, Wesen, Menschen, Häuser – immer auch Landschaft, oder:
… die Welt des Hans Lemmen“
Dem Werk von Hans Lemmen begegnete ich erstmals im Juni 2012, als ich eine Einladung zu seiner Ausstellung im >Museum Het Domein Sittard< in den Händen hielt. Dicke Baumstämme waren dort zu sehen, die mich sofort in ihren Bann nahmen, denn ich bereitete gerade die internationale Gruppenausstellung mit dem Titel >WOOD< vor.
Nun, nur zwei Jahre später, zeigen wir im Kunstgebäude auf dem Schlosshof in Bodenburg seine Zeichnungen unter dem Titel >WALDEINSAMKEIT (im Rübenfeld)< bei denen noch immer das Holz eine große Rolle spielt, was widersprüchlicher nicht sein könnte, denn diese beiden Landschaftsformen schließen einander aus, ja sie verdrängen einander – und das in beide Richtungen.
Wir müssen also weit zurückgehen in den Wald. Tief hinein in einen Raum, in dem unsere Vorfahren, besser noch Vorläufer oder noch treffende Vorkletterer lebten und sich von dem ernährten, was sie vorfanden. Es ist ein voller Raum, angefüllt mit einer unbeschreiblichen Vielfalt pflanzlichen und tierischen Lebens. Auch ein Klangraum, in dem sich zu den Stimmen der Tiere und dem Knacken der Äste noch der Wind oder der Sturm hinzugesellt und das Prasseln der Tropfen eines Tropenregens oder in kälteren Zonen das Rutschgeräusch und der dumpfe Aufprall herabfallender Schneemassen.
Diese kurze Beschreibung „des Waldes“ macht bereits deutlich, dass es „den Wald“ gar nicht gibt, dass er nur in unseren Köpfen und Vorstellungen existiert. Anders betrachtet jedoch kann man sagen, dass es viele Wälder gibt, beginnend mit dem Urwald, der natürlich in den verschiedenen Klimazonen unterschiedlicher nicht sein könnte, bis hin zu unseren Holz produzierenden Ansammlungen von Bäumen, die noch immer Wald genannt werden. Zurückblickend war es ein weiter Weg, den der Mensch machen musste, um vom Wald auf´s Feld zu gelangen – dem Zeitgenossen gelingt das schneller, denn der Waldweg mündet auf einen Feldweg – und umgekehrt.
Nun gab es in Deutschland eine Zeit, in der die Menschen den Wald als Hort der Ruhe und des asketischen Lebens romantisch verklärten. Mönche suchten die WALDEINSAMKEIT und Künstler und Schriftsteller betrachteten diesen Naturraum aus unterschiedlichsten Blickwinkeln und beschrieben ihn idealisierend.
Auch den Zeitgenossen Hans Lemmen beschäftigt dieses Thema ganz konkret aus der Perspektive seines Lebensraumes, denn er nimmt das Fehlen des Waldes wahr, den das Feld verdrängt hat. Aus der romantischen Waldeinsamkeit wird so seine FELDEINSAMKEIT, die jedoch andere Folgen hat als in der Romantik. Seine Waldeinsamkeit findet er auf dem Rübenfeld. Aber sie ist bei Weitem nicht das, was der Romantiker fand.
Beide Einsamkeiten basieren allerdings auf einer Gemeinsamkeit, der Natur, der wir ja entspringen und deren Teil wir sind. Künstlerinnen und Künstler haben sich schon immer mit dieser Natur befasst und sich deren Darstellung angenommen. Ob es die Höhlenzeichnungen in Lascaux oder Chauvet sind oder die Felsritzzeichnungen in der Sahara, die in Stein gehauenen Akanthusblätter griechischer oder römischer Tempelbauten oder die floralen Reliefdarstellungen auf den romanischen Kapitälen christlicher Kirchen – der >Grüne Mann< auf dem Sockel des Bamberger Reiters.
Viele Spielformen der Naturdarstellung wurden so im Laufe der Kunstgeschichte entwickelt und durch andere abgelöst. Hans Lemmen trägt mit seinen Naturdarstellungen auf sehr eigenwillige Art und Weise zu dieser Entwicklung bei. Das geschieht durch die Integration der menschlichen Figur in seinen Bildraum, der in der Regel nicht die reale Ansicht einer Landschaft widerspiegelt, für uns jedoch schon auf den ersten Blick eine Landschaft in uns aufscheinen lässt. Landschaft ist für Hans Lemmen die ihn umgebende Kulturlandschaft. Folglich gehören dazu auch Geräte und Architektur.
Und der Mensch?
Er taucht aus dieser Landschaft auf, deren Ackerfurchen auch Meereswellen sein könnten, oder er taucht in sie ein, wird Teil von ihr. Er verschmilzt mit dem Baum, sein Körper wird zum Haus, oder zur Wasserlache an der sich verschiedene Tiere laben. Immer wieder tauchen Be“Haus“ungen auf. Holzhäuser natürlich, Blockhäuser, Fachwerkhäuser deren Firstbalken eine Wirbelsäule ist , Ziegelhäuser, Häuser, die schwebend von Ihren Fundamenten abheben oder mit nach unten weisendem Dach an einer Wolke hängen, sowie Häuser auf Schiffen und solche die selbst Schiffe sind.
…auch Zelte
Diese weiche Form der Behausung, an deren Außenhaut man die Atembewegungen des darin Schlafenden ablesen kann. Die zu klein sind und somit Kopf und Fuß ungeschützt lassen. Kaum ein Auto oder Fahrrad.
…und Tiere
Wenn Hans Lemmen seine Arche öffnet, entströmen ihr Hirsche, deren Geweihe zum Baum werden – schon wieder das Holz – und Hunde, die als Albtraum auf der Bettdecke sitzen, manchmal auch selbst schlafen und natürlich beißen oder dem Herrchen das Stöckchen holen.
Besonders aber Vögel! Solche, die als Schwarm leichtflügelig das Ohr des Meditierenden aufsuchen oder als schwarze Dreiergruppe geduldig auf einen Einsatz warten. Einzelgänger auch, die dem freiliegenden Dachfirst die Holzwürmer entfernen oder auf dem Dach sitzend den Stiefelträger beobachten. >Lemmens Tierleben< ist geheimnisvoll, so wie Brehms Tierleben auch – aber ganz anders, denn da ist immer wieder
…auch die Landschaft
In ihrer FELDEINSAMKEIT ist sie möbliert, dennoch leblos. Trotz der Tiere und Häuser und Menschen, die meistens Männer sind, häufig auch kopflos, oder aus den Jahresringen eines Baumstumpfes auftauchend – erneut das Holz – vielleicht auch eintauchend und dadurch von kreisenden Wellen umgeben. ER somit also im Mittelpunkt! Auch als Muskelmann – aber hautlos!
So wie der Wald, der in seiner Abwesenheit im Focus steht – immer wieder, aber nur die Baumstümpfe erinnern noch an ihn. Ein ganzes Feld davon – wie Setzlinge einer ausgestorbenen Art. Eine Baumgruppe in der Glaskugel. Rundholzstapel. Und immer wieder die archeähnlichen Boote. Ja selbst die Arche als gläserner Sarg.
Hatte Noah denn Setzlinge an Bord, als die Sintflut über die Erde hereinbrach? Wer rettete damals den Wald? Es muss ihn ja schon gegeben haben, vor dem großen Wasser – für die Arche wurde Holz benötigt, aber danach auch, denn die Kriegsflotten der Griechen und Römer waren riesig – Waldsterben also schon damals – Versteppung – auch menschengemacht, wie heute. Agrarsteppen.
…und Wesen
Das Unbekannte. Auch das Tier in mir könnte man sagen. Das Ich im Tier. Das Animalische aus dem wir uns lösten und doch weiter in ihm verhaftet sind. Verhaften kann in demokratischen Staaten nur die Polizei. Doch wir sind es auch ohne diese – unverschuldet sogar. Rundum behaart. Mit Hirsch-, Hasen- oder Hundekopf. Adlerfüßig. Geflügelt auch. Ross und Reiter miteinander verschmolzen. Das kannten schon die Griechen und vor ihnen verliehen andere dem Menschen tierische Attribute. Die Sphinx tritt auf – oder viel, viel früher, der >Vogelmann< in der Hohle von Lascaux. Immer wieder geschah das und es geschieht heute noch.
Valie Export nimmt „gassigehend“ in Wien Peter Weibel an die Hundeleine. Max Ernst kann in seinem Roman >Une semaine de bonté< gar nicht aufhören mit dem Vermischen. Auch >Loplop< ist eines seiner Mischwesen. Werner Spies spricht in diesem Zusammenhang vom „inneren Gesicht“, dem Hervorbrechen der inneren Bilder – eigener, wie auch jener aus dem kollektiven Gedächtnis. Nicht zu vergessen in diesem Zusammenhang: Louise Bourgeois – mit >La femme arraignée<, Dali und seine >Métamorphoses érotiques<, oder Picassos >Minotaur<. Ganz aktuell: Yves Netzhammer, der in der Schweiz lebende Zeichner, der sich des modernsten Zeichengeräts bedient, des Rechners. Die Reihe ließe sich endlos fortsetzen.
Besonders Künstler sehen diese Bilder, und so ergeht es auch Hans Lemmen. Leben, das ist für ihn, sich ein Bild davon in Form einer Zeichnung machen, und noch eine, immer wieder. Aus seinen zeichnenden Händen fließen sie heraus, all jene Realitäten und Mischwesen, die er selbst noch nicht kennt und er staunend der Federspitze folgt, die seine Innenwelt sichtbar macht.
Er entlässt sie in seine ureigene Waldeinsamkeit auf dem Rübenfeld. Konfrontiert sie mit der Realität „da draußen“. Mit dem Wald, dessen Bäume nun Masten sind. Deren Rauschen ein anderes ist als im Nadel- oder Laubwald. Nicht Blätter oder Nadeln bewegen sich hier. Elektronen wandern und füllen die Luft – und den Mann – auch er wieder kopflos.
Nur ein Engel fällt körperlos – zerschnitten vom Rauschen, das den Tanz der Glieder begleitet und dem Künstler die Hand führt.